Kinder und Jugendliche mit entzündlichen Gelenkerkrankungen oder neurologischen Defiziten vermeiden oft das Laufen, wenn es für sie mit Schmerzen verbunden ist. Deshalb müssen sie das richtige Gehen unter physiotherapeutischer Begleitung erst wieder lernen. Ohne Therapie drohen motorische Langzeitschäden und es kann zu Entwicklungsverzögerungen kommen. Im Projekt APROACH (Active PaRametrizable Open-Source Articular Orthesis for Children) hat ein Forschungsteam um Prof. Dr.-Ing. Ulrich Wagner und Prof. Dr. med. Herbert Plischke an der Hochschule München eine Fußhebeorthese entwickelt, die junge Patienten beim Wiedererlernen des Gehens unterstützt.
Projektphase 1: Der mitwachsende Fußheber
„Zunächst haben wir uns mit unserem kleinen Forschungsteam auf die Entwicklung einer Fußheberorthese konzentriert“, erklärt Prof. Wagner das technische Konzept. Am gesunden Bein des Kindes registriert ein Muskelsensor am Unterschenkel die Muskelaktivitäten. Über einen Drehratensensor wird die Fußbewegung gemessen. Auf Basis dieser Daten wird ein Bewegungsprogramm für ein Antriebsmodul in der Orthese angepasst. Damit lernt das Kind Schritt für Schritt wieder das richtige Gehen. Das Besondere an der Orthese: Im Gegensatz zu vielen anderen aktiven Beinorthesen wächst sie mit dem Kind. Dies wird möglich durch ein austauschbares Trägerelement, welches mittels 3D-Druck in der passenden Größe hergestellt wird. Das spart Zeit und Geld.
Von Anfang an wurde das Projekt von klinischen Partnern unterstützt. Ebenso konnten Physiotherapeuten für die Orthese begeistert werden, die den Fußheber sofort als Hilfsmittel für ihre therapeutischen Maßnahmen annahmen. „Ein unerwartetes Ergebnis war das hohe Interesse an der Visualisierung der Muskelaktivität, die Funktion hatten wir ursprünglich nur als Kontrollmechanismus vorgesehen“, erläutert Wagner.
Projektphase 2: Das richtige Gehen sehen und hören lernen
„In der ersten Projektphase haben wir uns vor allem darauf konzentriert, den Fußheber als korrigierendes therapeutisches Gerät zu entwickeln und in der Praxis einzusetzen,“ beleuchtet Prof. Wagner die Situation. „In einer zweiten Phase haben wir uns dann daran gemacht, den diagnostischen Aspekt weiter auszubauen.“ Dazu messen nun zusätzlich zwei Klebeelektroden die Erregungszustände des Schienenbeinmuskels auf der Haut des Kindes und fünf Sensoren in der Fußsohle das Abrollen des Fußes. Die gemessenen Daten liefern danach Hinweise für Ärzte und Physiotherapeuten über den Therapieverlauf.
2016 rief das BMBF den Wettbewerb „Light Cares“ ins Leben. APROACH wurde als eins von zehn Forschungs- und Entwicklungsprojekte ausgezeichnet, die durch den Einsatz photonischer Technologien, wie 3D-Druck und Lasercuttern, den Alltag von Menschen mit Behinderung entscheidend verbessern und so mehr Teilhabe und Chancen ermöglichen wollte. Unter dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ arbeiteten Menschen mit Behinderung, Forscher aus Unternehmen und Instituten sowie Maker aus öffentlich zugänglichen Werkstätten gemeinsam an den Projekten. Für die Forschungsarbeiten stellte das BMBF ca. eine Million Euro zur Verfügung.
Mit Gamification den richtigen Gang finden
„Diese Daten können aber auch noch in anderer Weise genutzt werden,“ erläutert Christina Schill, die an dem APROACH-Projekt mitarbeitete und darüber ihre Master-Arbeit geschrieben hat. „Wir haben nämlich festgestellt, dass die erhobenen Sensordaten auch als prima Feedback-Möglichkeit für die Kinder selbst genutzt werden können.“
Die Kinder können ihre eigenen Bewegungen, also die Abfolge der Druckpunkte auf der Fußsohle, auf zwei zusätzlichen Sinneskanälen wahrnehmen. Akustisch in Form von Akkorden, die abgehackt klingen, wenn der Fuß nicht korrekt abgerollt wurde und die harmonisch klingen, wenn die Bewegung von der Spitze bis zur Ferse in der richtigen Reihenfolge erfolgte. Optisch kann das notwendige Anspannen der Unterbeinmuskulatur als Luftballons dargestellt werden, die mit jeder Bewegung aufgepumpt werden. „Das gibt dem Kind das Gefühl,“ so Wagner, „in seiner Anstrengung ernst genommen zu werden und motiviert es ungemein.“
Entwickeln nach Maker-Manier
Der Orthese sieht man deutlich an, dass sie noch in der Entwicklung steckt. Und das ist auch beabsichtigt. Sichtbare Einzelteile wie der Mikroprozessor, selbst gedruckte Bauteile und bunte Kabel zwischen den Modulen sind Teil des Maker-Entwicklungskonzeptes, nach dem die Forschungsgruppe vorgegangen ist. Die Entwicklung der Prototypen erfolgte in schnellen Entwicklungszyklen, die eingesetzte Hard- und Software ist Open Source. „Das ganze Projekt ist modular aufgebaut, so dass wir jede Erkenntnisstufe nutzen konnten, um sie für weitere, gezieltere Anwendungen zu verwerten“, so Wagner.
Es geht in die Zukunft
Die Entwicklung des Fußhebers fand in einem kleinen Forschungsteam aus zwei Professoren und vier wissenschaftlichen Mitarbeitern statt. Als Projektpartner konnten die Schönklinik für Orthopädie in Vogtareuth, das Deutsche Zentrum für Kinder- und Jugend-Rheumatologie und die Formrise GmbH gewonnen werden. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützte das Projekt im Rahmen seiner „LightCares“-Initiative.
Nach dem erfolgreichen Projektabschluss soll der APROACH-Ansatz nun aufbauend auf den Projektergebnissen den nächsten Schritt Richtung Anwendung machen – sowohl durch weitere Forschungsarbeiten an der Hochschule als auch durch die Gründung einer eigenständigen Firma, mit dem Ziel mittelfristig ein konkurrenzfähiges medizinisches Therapiegerät auf den Markt zu bringen.
Weitere Informationen
Kurzvorstellung des Projekts APROACH
Der Wettbewerb Light Cares